Hochsensibilität & Abgrenzung - Teil 2

Bild einer fauchenden Löwin als Symbol für Abgrenzung von hochsensiblen Menschen
Ihr ist es gerade zu viel und sie faucht und brüllt genüsslich. Kannst Du das auch oder fällt Dir das schwer?

 

In diesem Artikel findest Du:

  • Relativ wenig Text (für meine Verhältnisse).
  • Relativ viele Bilder.

Ich möchte nämlich versuchen, Dir ein sehr komplexes Thema auf sehr einfache Weise zu erklären. Beziehungsweise ist es meine Absicht, Dir die Essenz eines sehr komplexen Themas mitzuteilen.

 

Es geht um das für die meisten, wenn nicht sogar für alle hochsensiblen Menschen anspruchsvolle Thema der Abgrenzung.

 

In einem früheren Artikel habe ich versucht, der Komplexität dieser Thematik gerecht zu werden. Eine Seite von mir liebt Komplexität und differenzierte Betrachtungsweisen. Kann sich sogar lustvoll in der Komplexität und Differenziertheit des Lebens verlieren.

 

Ein anderer Anteil von mir mag es aber auch ganz einfach. Möchte den Dingen auf den Grund gehen, den Kern finden, die Essenz.

 

Und darum geht es hier:

 

Die Essenz von Hochsensibilität und Abgrenzung.

 

Also, ganz einfach und mathematisch reduziert:

  • Je mehr entspannte, feinfühlige und verlässliche Beziehung und Verbindung eine Person am Anfang ihres Lebens (0 – 2 Jahre) erfuhr, desto weniger hat diese Person im späteren Leben Schwierigkeiten mit der Abgrenzung.

Und umgekehrt:

  • Je weniger Beziehung und Verbindung, bzw. je mehr Stress eine Person am Anfang ihres Lebens erfuhr, desto stärker die Schwierigkeiten, sich im späteren Leben abzugrenzen.

Oder, noch mit anderen Worten: Wenn Dein Beziehungstank am Anfang Deines Lebens gut gefüllt wurde, fällt es Dir als Erwachsene*r leichter, die zwischenmenschliche Spannung auszuhalten, die durch Abgrenzung entstehen kann. Du hast eine sichere Innere Homebase, zu der Du jederzeit zurückkehren kannst, um Sicherheit, Geborgenheit, Verbindung und Vertrauen zu tanken.

 

Und je mehr Spannung Du am Anfang des Lebens in Beziehungen erlebtest, desto schwerer ist es für Dich, zwischenmenschliche Spannungen im Erwachsenenleben auszuhalten.

 

Merksatz: Abgrenzungsschwierigkeiten sind nicht an sich Folgen einer Hochsensibilität, sondern Folgen von unbefriedigten Beziehungsbedürfnissen in der frühen Entwicklung.

 

So viel zum Text. Jetzt kommen die Bilder.

 

Bild 1: Welche Bedürfnisse müssen bei Kindern und insbesondere bei sensibleren Kindern regelmässig und feinfühlig befriedigt werden? Die Antwort findest Du in diesem Bild:

Bild mit einer Übersicht über psychologisch relevante Bedürfnisse von Kindern
Bild 1: (Beziehungs-) Bedürfnisse von Kindern

Die Farbpunkte symbolisieren das individuelle Bedürfnisprofil eines Kindes, bzw. die Anteile und Seiten, die in ihm angelegt sind und die es in seinem Leben zum Ausdruck bringen kann. Wenn Beziehungspartner*innen vorhanden sind, denen es gelingt, all diesen Anteilen entspannt und feinfühlig zu begegnen, kann sich ein Kind ganzheitlich mit all seinen Anteilen und Facetten entwickeln. Sind zu wenig oder gestresste Beziehungspartner*innen vorhanden, stellt das Kind gewisse Anteile und Bedürfnisse zurück und die damit verbundene Entwicklung ein (bei Hochsensiblen typischerweise trotzige, rebellische, aufmüpfige, eigensinnige Anteile). Es entwickelt damit verbunden einen seelischen Bedürfnisdruck. Einen Beziehungshunger, da es in diesen Bereichen und Anteilen unterernährt ist. Und entwickelt andere Anteile übermässig, zur Kompensation, um die Beziehung zu den Bezugspersonen zu schützen (typischerweise angepasste, brave, fürsorgliche, pflichtbewusste Anteile).

Bild, welches das Sprichtwort illustriert: "Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind gross zu ziehen."
Bild 2: Das für Kinder und Menschen ideale Beziehungsdorf.

 

Das war jetzt wieder etwas viel Text. Kommen wir also gleich zum nächsten Bild:

 

Bild 2 zeigt die für die kindliche bzw. menschliche Entwicklung ideale Situation. Das sprichwörtliche afrikanische Dorf („es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind grosszuziehen“). Wie es heute noch bei indigenen Kulturen gelebt wird, z.B. bei den Maya, den Inuit oder den Hadza.

 

Und gleich noch ein Bild: Während Bild 2 ein Dorf zeigt, das jedem Kind gut tun würde, zeigt Bild 3 das Dorf, das vermutlich für hochsensible Kinder das ideale wäre (mit viel mehr Personal, um der komplexen Bedürfnisstruktur hochsensibler Kinder gerecht zu werden).

 

Hochsensible Kinder benötigen aufgrund ihrer komplexen Bedürfnisstruktur mehr Beziehungspartnerinnen.
Bild 3: Das ideale Dorf für hochsensible Kinder und Menschen.

Mit unserem westlichen Kernfamilienmodell mit ein bis zwei Hauptbeziehungspartner*innen sind Kinder im Allgemeinen und sensiblere Kinder im Besonderen beziehungsunterernährt. Wenn nicht sogar verwahrlost. Sie entwickeln viel zu früh und viel zu ausgeprägt die Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen, auf diese Rücksicht zu nehmen und emotional ganz viel zu geben. Und entwickeln gleichzeitig auch eine intensive Beziehungs(sehn)sucht. Sobald Beziehungsangebote auftauchen, in der Partnerschaft, in der Familie, bei der Arbeit etc., öffnen sie ihre Grenzen viel zu weit, in der Hoffnung, den eigenen Tank zu füllen. Und erleben die nächste Enttäuschung, weil sie damit zwar den Tank der anderen wunderbar füllen, aber selber wieder leer ausgehen.

Die Dorf-Situation hat zwei entscheidende Vorteile: Dem Kind (und auch Erwachsenen) steht immer ein*e passende Beziehungspartner*in zur Verfügung. Wenn nicht die Mutter, dann der Grossvater, die ältere Cousine oder der Onkel. Und: Stress wird in der Dorf-Situation nicht in erster Linie individuell oder zu zweit bewältigt, sondern im Kollektiv. In einem idealen Dorf besteht ein stabiles, verlässliches und mit einem reichhaltigen kollektiven Erfahrungsschatz aufgeladenes Beziehungsgeflecht, in welches, wie in einen Supercomputer stressige Erfahrungen eingespeist und sofort daraus Beruhigung, Trost, Ermutigung, Unterstützung etc. getankt werden können.

 

 

Bild, das zeigt, wie sich menschliche Nervensysteme synchronisieren.
Bild 4: Ein gut gepflegtes Beziehungsnetz ermöglicht Kollektivregulation.

Dieses Geflecht siehst Du in Bild 4. Ich nenne dieses Phänomen Kollektivregulation. Ein Phänomen, das wir heute in unseren modernen westlichen Gesellschaften und Kulturen kaum noch kennen.

 

Und aus meiner Sicht aber dringend brauchen. Nicht nur, um uns abzugrenzen. Sondern, um uns wieder einmal richtig tief entspannen und Zonen des Urvertrauens und der Verbindung erfahren zu können, die wir vergessen haben.

 

Wie können wir uns wieder erinnern? Einerseits, indem wir mit den Menschen, die uns zur Verfügung stehen, in Form von Familienmitgliedern oder Nachbar*innen ein solches Beziehungsgeflecht schaffen. Und noch effizienter und intensiver können wir solche Geflechte aus meiner Sicht und Erfahrung schaffen mit Hilfe des magischen Tools der Kreisarbeit, das ich in meiner Gruppenarbeit verwende.

 

 

Bild, das zeigt, wie Kreisarbeit oder Circle Work funktioniert.
Bild 5: In der Kreisarbeit wird das ideale Entwicklungsdorf simuliert.

Bild 5 zeigt, was dort passiert: Eine Person stellt oder setzt sich in die Mitte des Kreises, auf den „Dorfplatz“. Und erhält mit ihrem Thema, ihrem Anliegen, die volle Präsenz und Aufmerksamkeit des Dorfes. Alle Beteiligten bringen sich mit ihrem individuellen Erfahrungsschatz ein und stellen dadurch ein reichhaltiges emotionales Buffet zur Verfügung, an welchem sich die Person im Zentrum gemäss ihren Bedürfnissen bedienen kann. Und dadurch ihren Bedürfnis- und Beziehungstank füllen kann. Sich tief entspannen und in der Folge besser abgrenzen kann.

 

Unser Beziehungshunger kann gestillt werden und wir halten es aus, wenn wir andere enttäuschen, vor den Kopf stossen, triggern.

 

Das ist nämlich möglich.

 

 

 

Wenn Du die Magie der Kollektivregulation erfahren und nutzen möchtest: Hier findest Du meine Angebote dazu:

Und wenn Du mehr über das Phänomen der Kollektivregulation erfahren möchtest - in diesem Artikel findest Du Beispiele aus meinen aktuellen Gruppen:

Wenn Du mehr wissen möchtest, wie es den oben erwähnten indigenen Kulturen gelingt, ein ideales Dorf mit einem entwicklungsfördernden Beziehungsgeflecht zu schaffen, empfehle ich Dir das Buch

  • "Kindern mehr zutrauen" von Michaeleen Doucleff (Kösel Verlag).

Und ganz zum Schluss: Wenn Du in einem sehr persönlichen Erfahrungsbericht meine eigene erste Begegnung mit einem idealen Dorf nachlesen möchtest - in diesem Artikel teile ich diese gerne mit Dir:

Im Sinne einer meiner therapeutischen Grundhaltungen - "normal ist, was Deiner individuellen inneren Normalität entspricht" - wünsche ich Dir einen unglaublich normalen Tag voller Achtsamkeit und Wunder.

 

Herzlich,

Simon

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PSYTSG

Psychotherapie Simon Gautschy

M.Sc. Simon Gautschy

Eidg. anerkannter Psychotherapeut
Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Rathausgasse 17

5000 Aarau

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