Wie steht es um Deine Lebendigkeit? Sprühst Du vor Lebensenergie und Lebenskraft? Oder geht es Dir eher wie mir an diesen kalten und grauen Wintertagen, indem Du Dir eingestehen musst, dass Dein Energiepegel eher tief ist, Dein Körper und Deine Psyche nach Regeneration und Erholung rufen oder schreien und Deine Rückzugstendenzen sich zu Wort melden?
Falls zweiteres bei Dir der Fall ist: Wie geht es Dir damit? Kannst Du diese Tatsache und Dich selber damit liebevoll annehmen? Oder erlebst Du inneren Widerstand? Taucht eine Stimme auf, die Dir zuflüstert, es sollte anders sein? Ein neues Jahr ist angebrochen mit all den Pflichten, die anstehen und all den Zielen, die Du Dir gesetzt hast, wie sollst Du das meistern können, wenn Du jetzt schon an Deine Grenzen kommst?
Bei meinem viereinhalbjährigen Sohn erlebe ich kein Energietief. Auch nicht jahreszeitbedingt. Er ist munter und energiegeladen wie immer. Strotzt vor Lebensfreude und Entdeckerlust. Wie schafft er das?
In diesem Artikel möchte ich mich gemeinsam mit Dir mit unserer Lebenskraft beschäftigen und herausfinden, was uns dabei im Weg steht, diese im Alltag anzuzapfen, wie es meinem Sohn noch selbstverständlich gelingt. Und mit Dir zusammen anschauen, was wir tun können, um ebenfalls den Zugang wieder zu finden.
Was ist Lebenskraft.
Was ist genau mit „Lebenskraft“ gemeint? Ehrlich gesagt kann ich Dir auf diese Frage keine besonders wissenschaftliche Antwort geben. Trotzdem weisst Du vermutlich intuitiv genau, wovon wir sprechen. Diese Kraft und Energie, die Dir fehlt, wenn Du an einem überfüllten Arbeitstag morgens aus dem Bett kommen willst. Und die Kraft, die am Feierabend trotz Erschöpfung wieder auftaucht, wenn sich unerwartet ein alter Freund bei Dir meldet, von dem Sie schon lange nichts mehr gehört haben und sich mit Dir treffen will. Oder zuhause das Paket angekommen ist mit dem neuen Buch oder Kleid, das Du bestellt und sehnsüchtig erwartet hast. Deine Tochter Dir zuhause stolz ein Bild zeigt, welches sie im Kindergarten gemalt hat. Oder Du realisierst, dass ein freies Wochenende vor Dir liegt.
Schon seit Jahrtausenden bemühen sich Menschen darum, diesem Phänomen einen Namen zu geben und seine Gesetzmässigkeiten zu verstehen. Die Inder nennen es „Prana“ und geben sich grosse Mühe, Ihre Lebenskraft herbei und Blockaden wegzuatmen. Chinesen sprechen vom „Qi“ und versuchen über komplexe Bewegungsabläufe oder Nadelstiche ihre Energie in Gang und Schwung zu bringen. Zur Zeit der Aufklärung, in den Anfängen der modernen Wissenschaft wurden die die Begriffe Vis Vitalis oder Virtus Occulta eingeführt, um körperliche Phänomene zu bezeichnen, die noch nicht verstanden wurden, welche heute noch im Konzept der Vitalität weiterleben. In der Frühzeit der modernen Psychologie führte Sigmund Freud die Bezeichnung Libido ein, welche er hauptsächlich auf den sexuellen Trieb bezog. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung definierte den Begriff weiter und bezog ihn auf die menschliche psychische Energie im Allgemeinen. William Fairbairn, eine der zentralen Figuren der Objektbeziehungstheorie bezeichnete die Libidoenergie als „Wegweiser zum Objekt.“ D.h. die Energie, die uns dazu veranlasst, befriedigende Beziehungen zu anderen einzugehen. Und die ganze östliche Chakrenlehre beschäftigt sich intensiv mit dem Benennen und Lokalisieren verschiedener Energiezentren in unserem feinstofflichen Körper.
Du siehst: Viele Namen, die irgendwie alle mehr oder weniger das gleiche Phänomen bezeichnen, jedoch ohne dies klar oder zumindest einheitlich definieren zu können.
Die Lebenskraft in meinem Kreismodell und im Neuro-Affektiven-Beziehungsmodell von Laurence Heller.
In meinem Kreismodell der menschlichen Psyche verwende ich das Bild des Gesunden Kerns als Ursprung unserer Lebensenergie, aus welchem permanent für unser Wachstum und unsere Entwicklung hilfreiche Impulse hervorgehen. Laurence Heller, der Begründer des Neuro-Affektiven-Beziehungs-Modells NARM und der darauf basierenden Therapieform, verwendet den Ausdruck der Core Energy (Kernenergie) in Verbindung mit dem Begriff der Life Force (Lebenskraft). Er hat eine interessante Sichtweise entwickelt, um zu verstehen, wie es dazu kommt, dass Menschen sich als von ihrer Lebenskraft abgeschnitten erleben.
Der Grund- oder Urzustand ist jener des Neugeborenen: Falls Du schon einmal ein neugeborenes Kind gesehen oder auf dem Arm gehalten hast, weisst Du, wie sich ungebändigte Lebenskraft und Lebendigkeit anfühlen. Ein Neugeborenes ist noch direkt im Kontakt mit seiner Lebenskraft und seinen Bedürfnissen (insbesondere nach Nahrung, Schlaf und Körperkontakt) und schreit diese ungefiltert in die Welt hinaus. Es ist in Kontakt mit seiner Stärke und Kraft und hat Zugang zu seiner gesunden Aggression, welche es nutzen kann, um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung herbeizuführen (sprich: Die Eltern herbeizutrommeln). Der Grundzustand ist laut Heller gekennzeichnet durch Expansion (gesunde Selbsterweiterung), Aliveness (Lebendigkeit) und Self-Expression (Selbst-Ausdruck).
Wohlgemerkt: Auch Neugeborene sind nicht permanent damit beschäftigt, sich auszudrücken und zu erweitern. Sie sind aber im Kontakt mit Ihrem natürlichen Rhythmus. Sie essen, wenn sie Hunger haben. Sie schlafen, wenn sie müde sind. Sie holen sich Kontakt, wenn sie traurig oder wütend sind oder einfach kuscheln möchten. Ein gesunder Zugang zu unserer Lebenskraft hat auch damit zu tun, unserem natürlichen Rhythmus zu vertrauen und sowohl Aktiv- wie auch Regenerationsphasen einlegen und geniessen zu können.
Wie geraten wir nun also aus unserem Rhythmus?
Die Antwort ist aus psychologischer Sicht für einmal einfach und eindeutig: Durch Frustration unserer Bedürfnisse. Entweder durch eine besonders intensive kurzandauernde Frustration in Form eines akuten (Schock-)Traumas oder durch langanhaltende Frustration und Vernachlässigung in Form von chronischer Traumatisierung (Entwicklungstrauma).
Fünf Bewegungen der Liebe
Katharina Klees, die Entwicklerin der traumasensiblen Paartherapie benennt „fünf Bewegungen der Liebe“, welche Kinder vollziehen, bevor sie resignieren und auf ihre Bedürfnisbefriedigung verzichten. Ihre Beschreibung des Prozesses ist besonders interessant für das Verständnis von Entwicklungstraumata:
- Ein Kind drückt seinen Wunsch oder sein Bedürfnis nach Kontakt und Nähe voller Freude und Vertrauen aus.
- Wird der Wunsch zurückgewiesen, protestiert es.
- Wird dieser Protest ebenfalls zurückgewiesen, wird der Protest heftiger in Form von Ärger und Wut. Der sympathische Teil des vegetativen Nervensystems wird (dauerhaft) aktiviert.
- Wut wird zu Rage, das Kind versucht durch aggressives und gewaltsames Handeln, die Bedürfnisbefriedigung herbeizuführen.
- Erreicht das Kind mit diesem heftigeren Protest wieder keine Wirkung, verliert es das Vertrauen in seine Selbstwirksamkeit und erstarrt in einer Art Schockreaktion (Freeze). Der hintere Bereich des parasympathischen Teils des vegetativen Nervensystems wird (dauerhaft) aktiviert. Die Wut und Rage wird gegen sich selber gerichtet und es entstehen Reaktionsmuster, welche entweder chronisch aktiviert bleiben oder in Beziehungen zu Menschen (Eltern, Gleichaltrige, später in der Partnerschaft) immer wieder aktiviert werden.
Gemäss Laurence Heller können Menschen fünf unterschiedliche Reaktionsmuster (oder Kombinationen davon) entwickeln, je nachdem, welche zentralen Bedürfnisse frustriert wurden:
Die fünf zentralen Bedürfnisse im NARM sind:
- Verbindung (mit Selbst, Körper, Emotionen, anderen)
- Feinfühliger Umgang (Selbstversorgung, Hilfe holen)
- Vertrauen (Gesunde Abhängigkeit, Hingabe)
- Autonomie (Grenzen setzen, authentisch kommunizieren)
- Liebe-Sexualität (Offenes Herz, Mitgefühl, Liebe und Sexualität verbinden)
Die Auflistung ist chronologisch, d.h. informiert darüber, welche Bedürfnisse in welcher Lebensphase besonders zentral sind. Bei Neugeborenen (0-6 Mt) steht an erster Stelle, sich verbunden zu fühlen, indem sie sich als willkommen auf der Welt und bei ihren Eltern erleben. In den ersten beiden Lebensjahren ist es für Kinder besonders wichtig, dass sie die Erfahrung machen können, dass achtsam und feinfühlt mit ihnen und ihren Bedürfnissen umgegangen wird. Dieser Umgang dient als Modell dafür, wie sie später mit sich selber umgehen. In der Folge steht mehr die Entwicklung von emotionalem Vertrauen im Zentrum. In dieser Phase geht es darum, dass Kinder erfahren, dass sie mitreden und mitbestimmen dürfen. Die Ich-Entwicklung ist in vollem Gang, was sich häufig auch durch Trotzverhalten oder -anfälle äussert. Ab ungefähr dem 7. Lebensjahr fangen Kinder bereits an, sich von ihren Eltern zu lösen und tiefere Verbindungen zu Peers einzugehen. In dieser Phase ist es besonders wichtig, dass sie dabei unterstützt werden und sich nicht für das Wohlergehen der Eltern verantwortlich fühlen müssen. In der Pubertät steht, auch durch die biologischen Veränderungen bedingt, die Entwicklung der geschlechtlichen Identität im Vordergrund und das Bedürfnis taucht auf, einen liebevollen Umgang mit sich selber als sexuelles Wesen zu lernen und zu erfahren.
Kommt es zu Störungen oder Verletzungen in den oben erwähnten Phasen, entwickeln Menschen Überlebensstrategien, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Die damit verbundenen fünf Überlebensstrategien:
- Verbindung – Verbindungslosigkeit zu Selbst und anderen - Angst
- Feinfühliger Umgang – Bedürfnisse nicht kennen, Entscheidungsschwierigkeiten, Gefühl von Wertlosigkeit – Trauer
- Vertrauen – Gefühl, alles unter Kontrolle haben und selber machen zu müssen - Ärger
- Autonomie – Gefühl von Belastung und Druck, Mühe mit Grenzen Setzen, Nein Sagen - Schuld
- Liebe-Sexualität – Herz und Sexualität sind getrennt, Selbstwert basiert auf Aussehen und Leistung – Scham
Alle diese Überlebensstrategien haben einen Nutzen in der Form, dass sie uns vor weiteren Bedürfnisverletzungen schützen. Allerdings gibt es auch einen Preis, nämlich den Verlust des Zugangs zu unserer Lebensenergie und somit unserer Lebendigkeit.
Und wie können wir wieder in Kontakt damit kommen?
Heller schlägt eine Kombination aus zwei Vorgehensweisen vor: Bottom Up: Wir achten uns auf unser Körpererleben, unsere Körperemfindungen und –signale in Form von Somatic Tracking und dem Entwickeln von Somatic Mindfulness (Körperliche Achtsamkeit). Gleichzeitig identifizieren wir unsere Prägungen und damit verbundene Verhaltensweisen mit unserem Verstand (Top Down).
Kommt Dir das bekannt vor? Genau so gehen wir auch in meinen Gruppen gemäss meinem ganzheitlich-integrativen Kreismodell vor: Über das Training unseres Körperachtsamkeit vertiefen wir den Kontakt zu unserem Selbst und unserem Gesunden Kern und somit unserer Lebensenergie. Und indem wir uns unserer Prägungen bewusst werden, identifizieren wir unsere Ichs und überprüfen, ob diese wirklich hilfreich und unterstützend sind für unsere Lebensbewältigung in der Gegenwart. Und verändern sie gegebenenfalls.
Willkommen bei Dir. Kümmere Dich gut um den Zugang zu Deiner Lebenskraft. Sie ist nämlich da für Dich, ob Du sie pflegst oder nicht. Und hat die unangenehme Angewohnheit, sich auf indirekte Art und Weise zu zeigen, wenn wir uns nicht gut um uns kümmern. Indem sie beispielsweise Unordnung in unserem Inneren, in unserem äusseren Leben, beispielsweise in unseren Beziehungen, schafft.
Möchtest Du Hilfe damit? In meiner virtuellen Seelenboutique findest Du einen Mini-Online-Kurs, in dem ich Dir weiteren theoretischen und vor allem praktischen Input gebe zum Thema Bedürfnisse: "Wie gut kennen Sie Ihre psychologisch-emotionalen Bedürfnisse?"
Lebendige und kräftige Grüsse,
Simon
Literatur:
- Heller, L. & LaPierre, A. (2021): Healing Developmental Trauma. How Early Trama Affects Self-Regulation, Self-Image, and the Capacity for Relationship. The NeuroAffective Relational Model (NARM) for restoring connection. North Atlantic Books.
Kommentar schreiben