In meiner Kindheit lag bei uns in der Stube häufig die Schweizer Illustrierte auf dem Stubentisch. Ich las besonders gerne die Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern der Schweizer Cervelat-Prominenz. Dass jemand von der Schweizer Illustrierten interviewt wurde, bedeutete für mein kindliches Ich, dass dieser Mensch es wirklich zu etwas gebracht hatte im Leben. Und mein kindliches Ich setzte es sich als Ziel, eines Tages auch von der Schweizer Illustrierten interviewt zu werden.
Gleich vorweg: Dieses Ziel habe ich nicht erreicht. Und ich werde es vermutlich auch nie erreichen in meinem Leben. Ich bin gescheitert mit diesem Ziel. Ehrlich gesagt will es auch gar nicht mehr erreichen, denn ich führe ein glückliches und erfülltes Leben. Wie ich das geschafft habe?
Gerne teile ich Ihnen eines meiner Geheimnisse zum Glück anhand eines fiktiven Interviews mit der Schweizer Illustrierten mit:
Auftritt einer Journalistin der Schweizer Illustrierten in meiner wunderschönen Praxis: „Herr Gautschy, was für eine Freude und Ehre, hier bei Ihnen in Ihrer wunderschönen Praxis eine Homestory durchführen zu dürfen. Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie mir Ihre wertvolle Zeit schenken.“
Ich (bescheiden): „Das ist doch nicht der Rede wert, ich fühle mich geehrt, dass ich den Schweizerinnen und Schweizern etwas für ihr Wohlbefinden und Glück mitgeben darf.“
Journalistin (freudig): „Sie sind zu bescheiden, Herr Gautschy. An Ihrer Praxis und auch an der Tatsache, dass Sie nun von der Schweizer Illustrierten interviewt werden, wird doch deutlich, dass Sie es wirklich zu etwas gebracht haben in Ihrem Leben. Was ist Ihr Geheimnis? Was macht Sie aus Ihrer Sicht zu einem guten Psychotherapeuten? Und zu einem guten Menschen?“
Ich: „Mein Psychologiestudium, meine Psychotherapieausbildung und meine Obsession dafür, immer wieder neue Therapieverfahren zu entdecken und auszuprobieren, hat mir bestimmt viele wertvolle Werkzeuge in die Hand gegeben. Meine therapeutische Haltung und auch meine Herangehensweise ans Leben wurde aber zweifellos am Stärksten geprägt durch meine Erfahrungen mit Improvisationstheater.“
Journalistin: „Das klingt wahnsinnig interessant! Ich fühle mich jetzt schon total inspiriert. Erzählen Sie mir und unseren Leserinnen und Lesern mehr!“
Ich (leicht errötend): „Ihr Interesse freut mich sehr, vielen Dank. Im Improvisationstheater habe ich zwei grundlegende Fähigkeiten gelernt und trainiert, die aus meiner Sicht für die therapeutische Arbeit und für die Lebensbewältigung zentral sind: Erstens, dass ich im Improvisationstheater meiner Lebensangst ins Angesicht blicken und so den Mut finden konnte, einfach einmal Ja zu sagen zu dem, was das Leben mir als Angebote präsentiert. Und zweitens die Offenheit und Flexibilität, mich auf diese Angebote einzulassen und mich von ihnen verändern zu lassen, ohne wissen zu müssen, wohin die Reise geht. Für meine therapeutische Haltung heisst dies: Ich versuche, Menschen zu ermutigen, sich ebenfalls ihren Ängsten zu stellen und Mut und Vertrauen zu entwickeln, dass sie eigentlich spüren, tief drin, was das Leben von ihnen will und diesen Impulsen zu folgen. Und die Offenheit hilft mir, immer wieder Vorstellungen und Hypothesen, die mein übereifriger Kopf ständig bildet, über Bord zu werfen und dem Therapieprozess zu folgen. Was bedeutet, immer wieder loszulassen und die Erfahrung von Scheitern zuzulassen. Für den Kopf kann das sehr schmerzhaft sein, denn er ist davon überzeugt, dass ein gutes Leben nur möglich ist, wenn es so kommt, wie er will. Je mehr wir auf ihn hören, desto stärker identifizieren und verstricken wir uns mit seiner Überzeugung. Und je mehr wir üben, präsent zu sein und wahrzunehmen, was für Angebote im Moment vorhanden sind, desto besser können wir mit dem täglichen Scheitern leben. Unser Leben wird dadurch viel leichter, einfacher und erfüllter. Wir sind mit weniger zufrieden und dadurch deutlich zufriedener. Es gibt aus meiner Sicht keine bessere Lehrerin und Therapeutin als die pure Präsenz.“
Journalistin (aufgeregt): „Wow, das klingt ja super, das will ich auch! Ich will auch meiner Lebensangst ins Auge blicken und Präsenz erfahren! Wie können diese Fähigkeiten denn ganz konkret im Improvisationstheater trainiert werden?“
Ich: „In meinen Kursen läuft es so ab: Zu Beginn einer Kurseinheit nehmen wir uns Zeit zum Ankommen mit Aufwärmübungen, welche dazu dienen sollen, den Alltag abzuschütteln, um in der Gegenwart und in der körperlichen Präsenz anzukommen. Damit wecken wir auch die Spielfreude. Dieser Teil findet in der Gruppe, aber auch in Form von Einzel- und Partnerübungen statt. Danach gehen wir zum „Emotional-Stretching“-Teil über: Wir explorieren einen Teil unseres Erlebens und versuchen, unseren Erlebensspielraum zu erweitern. Dies kann im Bereich der Emotionen sein, durch das Erkunden verschiedener Rollen oder durch sogenannte „Games“, Spielformen aus dem Improvisationstheater, welche bestimmte Regeln vorgeben, anhand welcher sich zwei oder mehrere Spieler*innen durch eine Szene hangeln sollen. Und schliesslich spielen wir. Ich habe dafür das Format des Spielkreises entwickelt, welcher es ermöglicht, dass die ganze Gruppe gemeinsam eine Geschichte entwickelt. Vom Ablauf und der Form her passiert also nichts Spektakuläres. Wenn es uns gelingt, achtsam in unsere Präsenz zu finden, erscheint auf einmal die Magie des Augenblicks.“
Journalistin (ist aufgesprungen, hüpft vor Begeisterung durch den Raum): „Magie des Augenblicks!! Das ist genau das, was ich brauche.“ (Steht dann still). „Aber es gibt ja viele Menschen, die anders sind als ich, ängstlich, vorsichtig, zurückhaltend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sich auf so etwas einlassen könnten. Oder was ist Ihre Meinung?“
Ich: „Gerade deshalb habe ich die Kombination aus Psychotherapie und Improvisationstheater PSYmprov entwickelt, um es ängstlichen, vorsichtigen und/oder introvertierten Menschen zu ermöglichen, den Schatz des Improvisationstheaters zu nutzen. Ich war ebenfalls ein sehr ängstlicher Mensch, als ich das Improvisationstheater entdeckte in meinem Leben und hätte mir gewünscht, feinfühlig und behutsam begleitet, statt immer wieder ins kalte Wasser gestürzt zu werden. Ich habe keinen Schaden erlitten dadurch, sondern bin daran gewachsen, aber bin auch überzeugt, dass es andere Wege gibt. In der PSYmprov nehmen wir uns viel Zeit zum Ankommen, in der Gruppe, bei sich selber. Arbeiten spielerisch mit körpertherapeutischen Übungen, um die Verwurzelung und Zentrierung im Körper zu fördern. Nehmen uns Zeit für Reflexionen und achten darauf, dass eine Balance herrscht zwischen Sicherheitserleben und der Möglichkeit, über den Tellerrand der eigenen Komfortzone hinauszublicken und die eigene Präsenz und Resilienz zu stärken. Wir versuchen achtsam, Leistungsansprüche zu identifizieren und loszulassen, da im PSYmprov der Beziehungsaspekt im Vordergrund steht: Beziehung zu sich selber, zu anderen und zum Leben.
Journalistin: (steht mitten im Raum mit weit ausgebreiteten Armen mitten im Raum mit einem ekstatischen Ausdruck auf dem Gesicht) „Das klingt einfach zu gut um wahr zu sein. Sie wollen uns aber nicht auch noch weismachen, dass auch die Psyche davon proftitiert?“
Ich: „In der PSYmprov synchronisieren wir unsere beiden Hirnhälften, stärken die Regulationsfähigkeit unseres Nervensystems, was zu erhöhter psychischer und körperlicher Resilienz führt, unser Immunsystem trainiert und dazu führt, dass wir befriedigendere Beziehungen zu anderen erleben können. Zudem schaufeln wir den Zugang zu unserer authentischen Kreativität frei, tanken Lebensfreude und Lebenskraft und werden präsenter, achtsamer und authentischer. Noch mehr?“
Journalistin (mit offenem Mund): „Sagen das jetzt einfach Sie oder gibt es da auch Forschung dazu?“
Ich: „Gut, dass Sie fragen! Ich bin aus eigener Erfahrung sehr überzeugt von den positiven Auswirkungen des Improvisationstheaters. Aber diese Frage habe ich mir auch gestellt und bin nicht überrascht, dass die Forschung entdeckt hat, dass sich Improvisationstheater positiv auswirkt bei sozialen Ängsten, bei Entwicklungstrauma (Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung) und insgesamt Sozial-, Kommunikationsverhalten und Selbstwert verbessert sowie Angst- und depressive Symptomatik insgesamt reduziert und Menschen weniger perfektionistisch macht.“
Journalistin (setzt sich hin, fächelt sich Luft zu): „Ich muss mich setzen.“ (Nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glas, das ich ihr zuvorkommenderweise hinstrecke). „Vielen Dank, Sie haben mich überzeugt. Ich bin dabei. Wie und wo kann ich mich anmelden?“
Ich: „Das freut mich sehr, dass Sie beim nächsten PSYmprov-Kurs dabei sein möchten. Hier finden Sie alle weiteren Details.“
Journalistin: „Herr Gautschy, ich kann Ihnen nicht genug danken für das für mich persönlich und bestimmt auch für unsere Leserinnen und Leser wahnsinnig inspirierende Interview. Und ich möchte mich an dieser Stelle in aller Form bei Ihnen entschuldigen, dass wir von der Schweizer Illustrierten nicht schon früher auf sie zugekommen sind!“
Ich: „Das ist überhaupt kein Problem. Wie erwähnt, führe ich ein gutes, gesundes und glückliches Leben. Eben auch dank der Fähigkeit, mit dem Scheitern leben zu können und immer wieder loszulassen.“
Vielen Dank für Ihr Interesse und willkommen bei Ihnen.
Gehen Sie gut und in Zukunft vielleicht auch etwas spielerischer mit sich und den Menschen in Ihrer Umgebung um. Und falls Ihnen dies schwer fallen sollte, melden Sie sich einfach für den nächsten PSYmprov-Kurs an.
Herzlich,
Simon Gautschy
Ach ja, übrigens: Falls Sie jemanden kennen sollten, der oder die bei der Schweizer Illustrierten arbeitet und dort allenfalls ein gutes Wort für mich einlegen könnte, für den Fall, dass noch Personen für ein Interview gesucht würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Literatur:
Johnstone, Keith (2018). Improvisation und Theater. Alexander Verlag.
Johnstone, Keith (2018). Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport. Alexander Verlag.
Spolin, Viola (1999). Improvisation for the Theater. A handbook of teaching and directing techniques. Northwestern University Press.
Lösel, Gunter (2004). Theater ohne Absicht: Ein Herz-, Hand- und Hirnbuch für Improvisationstheater. Buschfunk.
Lösel, Gunter (2019). Archetypenspiel: Grundformen menschlicher Begegnung. Deutscher Theater Verlag.
Stiles, Patti (2021). Improvise Freely: Throw away the rulebook and unleash your creativity. Big Toast Entertainment.
Tavares, Gregg (2012). Improv for everyone. M&L Books.
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Regula (Samstag, 06 August 2022 13:50)
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