Ein Plädoyer für die therapeutische und Entwicklungsarbeit in Gemeinschaft.
Ich möchte Ihnen von einem Freund von mir namens Kaspar erzählen. Kaspar hat vor einigen Jahren ein altes, abbruchreifes Haus gekauft. Und hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Haus zu renovieren.
Alleine.
Gleich vorweg: Ja, er hat sein Ziel erreicht, er lebt heute in einem Traumhaus. Aber in diesem Artikel geht es nicht um Ziele. Es geht um etwas anderes. Kaspar hat etwa zehn Jahre gebraucht, bis er in seinem Haus wohnen konnte. Sein Leben hat sich zehn Jahre lang nur um das Haus gedreht. Es gab kaum Platz für anderes. Keine Hobbies, keine berufliche Weiterentwicklung, keine Beziehung und auch seine Freunde wurden vor allem für den Hausbau eingespannt.
Schnitt zu mir.
Ich wohnte mit meiner kleinen Familie vor drei Jahren ebenfalls in einem alten Haus, bei dem eine Renovation fällig war. Unsere Vermieter haben sich entschieden, die Renovation nicht selber durchzuführen, sondern eine Architektin zu beauftragen. Welche über ein Netzwerk aus sehr kompetenten Handwerkern und Spezialisten verfügte. Welche gemeinsam in einem halben Jahr ein traumhaftes vierstöckiges Dreiparteienhaus errichteten. In welchem ich heute mit meiner Familie wohnen darf. Ohne dafür einen Finger gerührt zu haben.
Was will ich damit sagen? In meiner therapeutischen Tätigkeit verwende ich gerne das Bild des Hauses der Psyche. Es geht in einer Therapie oder in einem Coaching darum, das eigene Haus der Psyche auf Vordermann zu bringen. Zu renovieren sozusagen. Manchmal reicht eine sanfte Renovation, manchmal braucht es einen Abbruch und einen Neubau. Sie können sich nun, wie Kaspar, alleine um die Renovation oder um den Neubau kümmern. Was Jahre dauern und viel Energie brauchen wird. Die Ihnen für anderes fehlt. Wenn das eine bewusste Entscheidung ist und Sie Spass daran haben, will ich Sie selbstverständlich nicht davon abhalten. Oder aber Sie können sich, wie es meine Vermieter taten, vernetzen und gemeinsam mit einem Team von Experten innert kürzester Zeit etwas Prachtvolles errichten und haben daneben noch Zeit und Energie, sich um anderes zu kümmern.
Sie merken vermutlich langsam, worauf ich hinauswill: Ich möchte Ihnen die therapeutische Arbeit in Gemeinschaft schmackhaft machen. Hemmungslos und ungeniert möchte ich dafür werben und Sie überzeugen.
Ich war selber lange wie Kaspar davon überzeugt, dass der Alleingang der beste und mir entsprechende Weg ist. Irgendwo im Inneren ärgerte ich mich aber auch darüber, dass meine eigene Heilungs- und Entwicklungsarbeit mir so viel Energie, Zeit und Geld raubte, die mir nicht für anderes zur Verfügung stand. Bis ich auf den Geschmack kam und die heilsame Kraft von Gemeinschaft erfahren durfte, erst im Rahmen meiner Psychotherapieausbildung und später auch in anderen Kontexten. Zum Beispiel hier.
Was mir am Meisten zu denken gab bei diesen heilsamen Erfahrungen und auch heute noch beschäftigt, war die Tatsache, dass mir gar nicht bewusst war zuvor, was mir Gruppen überhaupt an positiven Erfahrungsmöglichkeiten bieten konnten. Das Klima in meiner Urgruppe, meiner Familie, war geprägt von Stress und Überforderung. In den organisierten Gruppen meiner Kindheit und Jugend (Kindergarten, Schule, Vereine) gab es ständig irgendwelche Anforderungen zu erfüllen, die mich entweder über- oder unterforderten. Es herrschte ein kompetitives Klima, in welchem es darum ging, sich mit anderen zu vergleichen, zu messen und ja nicht aufzufallen. In einer Gruppe zu sein, so war meine Lernerfahrung, bedeutete, mir auf keinen Fall zu gestatten, authentisch, also mich selber zu sein. Sonst würde ich den sozialen Tod riskieren.
Kennen Sie das? Oder wie sahen Ihre prägenden Gruppenerfahrungen aus?
Ich war auf jeden Fall sehr erleichtert, als ich den trüben, schlammigen See meiner Jugend durchquert hatte und am rettenden Ufer des Erwachsenenlebens angekommen war. Das lose Gruppengefüge im Studium entsprach mir total. Am Authentischsten mit Anderen fühlte ich mich in Theatergruppen, wo ich immerhin bewusst Rollen spielen konnte und nicht so tun musste, als ob diese Rollen meinem authentischen Selbst entsprechen würden.
Ich will Sie aber nicht weiter mit meinen persönlichen Erfahrungen belästigen, sondern wollte anhand des Beispiels von mir veranschaulichen, dass wir uns in unserer Leistungsgesellschaft schlichtweg nicht gewohnt sind, in Gruppen authentisch sein zu können. Wir müssen uns von unserer besten Seite präsentieren, beweisen und vermarkten. Diese Erfahrungen von mir decken sich mit den Erfahrungen von Menschen, die ich in meinen Therapie- und Coachingsitzungen zu hören bekomme.
Und trotzdem: Wir Menschen sind Gruppenwesen. Unser Nervensystem reguliert sich am Besten in gesunder Gemeinschaft mit anderen und da dann auch praktisch von alleine. Wir werden in Gruppen hineingeboren und halten uns während des ganzen Lebens in Gruppen auf. Real oder virtuell. Und wenn wir es nicht tun, leiden wir in den allerallermeisten Fällen darunter. Unsere Psyche und unser Körper ist auf soziale Erfahrungen angewiesen, um sich weiter entwickeln zu können. Sonst verkümmern wir. Ist es also nicht paradox, dass es sich in unserer Gesellschaft etabliert hat, dass wir uns Heilung von einer Einzeltherapie oder einem Einzelcoaching versprechen? Meiner Meinung nach hat das genau mit diesen prägenden Gruppenerfahrungen zu tun. Viele psychische Störungen sind aus meiner Sicht Folge von Gruppentraumata. Tribal Trauma. Und Gruppentraumata lassen sich nicht im Einzelsetting behandeln oder nur ganz schwer. So wie Kaspar zwar sein Haus bauen konnte, alleine, aber dafür Jahre brauchte.
Ich habe Ihnen meine Ansicht mitgeteilt. Was sagt die Forschung dazu? Diese stimmt mit mir überein und hat herausgefunden, dass Behandlungen in der Gruppe mindestens genauso wirksam sind wie Einzelbehandlungen. Wenn nicht wirksamer. Auf jeden Fall effizienter, kostengünstiger und machen zudem noch mehr Spass.
„Aber in der Gruppe geht es ja gar nicht um meine persönlichen Themen, die mich beschäftigen!“
Höre ich als häufigen Einwand.
Da haben Sie Recht. Das ist auch gar nicht nötig. Viele Menschen haben das Gefühl, dass es in einer Therapie darum geht, Ordnung im Kopf zu schaffen, d.h. dass sie mit ihren inhaltlichen Themen weiter kommen. Dem ist nicht so. In meiner Arbeit zumindest geht es in erster Linie darum in folgenden Bereichen Ordnung zu schaffen:
- Lernen Sie, Ihr vegetatives Nervensystem in Balance zu bringen und schaffen so ein körperliches Klima von Entspannung und Wohlbefinden
- Synchronisieren Sie Ihre beiden Hirnhälften und kommen dadurch in Kontakt mit Ihren Emotionen und Ihrem Bedürfnissystem und
- Reorganisieren Sie Ihr psychisches System, so dass es nicht mehr Ich-geleitet, sondern Selbst-geführt wird und sich flexibel selbst organisieren kann.
Das Inhaltliche klärt sich in der Folge meistens von selber. Und alle diese Prozesse lassen sich so viel schneller, einfacher und leichter im Gruppensetting bewerkstelligen. Oder falls es zusätzlich zu der Arbeit in der Gruppe noch eine Einzelsitzung braucht, ist es leichter, rasch in die Tiefe zu gehen und noch anstehende individuelle Themen zu klären.
„Ich würde ja gerne an einer Gruppe teilnehmen, aber ich habe Angst davor.“
Genau, das weist darauf hin, dass Sie ein Gruppentrauma mit sich herumschleppen. Das viel Energie frisst. Es wird Zeit, dass Sie dieses Trauma loswerden. Und das ist nur möglich, indem Sie sich dieser Angst stellen. Und das geht am Besten in einer Situation, welche der traumatischen Situation ähnlich sieht, aber auch korrektive Erfahrungen ermöglicht. So wie es im geschützten Rahmen einer wohlwollenden und supportiven Therapie- oder Wachstumsgruppe möglich ist. Im Gruppensetting haben Sie einen Architekten zur Verfügung, der Ihnen dabei hilft, sich klarer zu werden darüber, wie das Ihrer Psyche aussehen sollte nach Ihren Vorstellungen plus Ihnen steht ein kompetentes Netzwerk von Expert*innen zur Verfügung, das Sie beim Hausbau und bei der Einrichtung unterstützen. Menschen helfen nämlich gerne und können das auch gut, wenn sie sich nicht ständig mit anderen messen müssen.
„Ich möchte aber keine intimen Details mit anderen Menschen teilen müssen.“
Müssen Sie auch nicht. In der Gruppe arbeiten wir nicht in erster Linie inhaltlich. Sondern auf Prozessebene. Damit Sie die oben erwähnten drei Stockwerke im Haus Ihrer Psyche aufräumen und nach Ihren Vorstellungen gestalten können. Rein theoretisch müssen Sie überhaupt nichts Inhaltliches von sich dafür preisgeben, nicht einmal ihren Namen. Aber glauben Sie mir, wenn Sie einmal auf den Geschmack gekommen sind, teilen Sie von sich aus den Gruppenmitgliedern Dinge mit, die nicht einmal Ihre engsten Freunde oder Familienmitglieder wissen. Ich spreche aus Erfahrung.
Ich persönlich möchte nicht meine Lebenszeit ver(sch)wenden damit, mich um mein Haus zu kümmern. Ich möchte darin wohnen, mich darin wohlfühlen, ja. Aber ich möchte vor allem hinausgehen können in die Welt, um dort zu wirken und zu gestalten.
Und Sie?
Vielen Dank für Ihr Interesse und willkommen bei Ihnen.
Gehen Sie gut mit sich und insbesondere auch mit Ihren Freund*innen um - wir können viel von ihnen lernen.
Herzlich,
Simon Gautschy
Zum Weiterlesen:
- Blog-Artikel Magic of Tribe: Die 5 magischen Auswirkungen von guten Gruppen
- Tribal Trauma: Meine Sicht auf Gruppentrauma
- Meine Heart-IQ-Experience bei Christian Pankhurst in New Eden
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